Senem
Senem stand in der Küche und traf ihre Vorbereitungen für das Treffen mit ihren Freunden in der alevitischen Gemeinde.
Sie werden ihre selbst zubereiteten Hızır Gaben (lokma) teilen, den rituellen Semah-Tanz tanzen und gemeinsam religiöse Lieder singen und auch zu dieser Fastenzeit ihren Pflichten nachgehen.
Noch vor einem Jahr wäre Senem um die Zeit im Tiefschlaf gewesen.
Sie hätte wie jedes Wochenende gefaulenzt, bis mittags geschlafen, vom vielen Schlafen Kopfschmerzen bekommen, Fernseher geguckt und nebenbei im Internet gesurft.
Heute aber war sie voller Tatandrang.
Nicht nur an Wochenenden, mittlerweile stand sie jeden Morgen mit viel Freude und Elan auf, die Sonne erstrahlte ihr Gemüt.
Sie war mit ihrem Leben sehr zufrieden Senem dankte Gott jeden Tag für die neue Sichtweise.
Im Grunde genommen war alles beim Gleichen.
Senem wohnte immer noch in derselben Wohnung, ging immer noch in dieselbe Arbeit und traf sich mit denselben Freunden.
Finanziell ging es ihr wie letztes Jahr.
Nur diese eine Erfahrung veränderte ihr Leben grundlegend.
Diese Erfahrung machte sie im Frühjahr, genau vor einem Jahr.
Diesen Moment wird sie niemals vergessen.
Es traf sie wie die Liebe auf dem ersten Blick.
Seitdem war Senem wie ausgewechselt.
Sie lebte voller Freude und Motivation.
An diesem besagten Frühlingstag ging Senem auf Wunsch eines Freundes mit in die Gemeinde, um an einer Gesprächsrunde teilzunehmen.
Wohl war es ihr bei dem Gedanken nicht. Sie wollte Cem aber nicht absagen.
Senem stammte aus einer alevitischen Familie, die in diesen Glauben hineingeboren wurde.
Sie übten ihren Glauben nicht aus, standen aber zu ihrer Herkunft und ihrer Religion.
Die Hingabe, die Erkenntnis, die Erfüllung, die Schönheit und religiöse Weisungen, die viele Aleviten empfanden, waren ihnen fremd.
Senems Brüder spielten nur die Langhalslaute (Bağlama/Saz), ein typisches Musikinstrument der Aleviten.
Auch Senem konnte sich wie ihre Eltern nicht mit ihrem Glauben identifizieren und mied deswegen alles was dazu gehörte.
Die ersten Stunden der Gesprächsrunde verliefen sehr monoton.
Senem langweilte sich und versuchte es sich nicht anmerken zu lassen.
Die Jugendlichen tranken Tee, aßen ihre Gaben (lokma), sangen religiöse Lieder und unterhielten sich über alltägliche Themen.
Sie kannte diese Art von Treffen. Sie besuchte gelegentlich ihre Cousins, die in einer anderen Stadt wohnten.
Auch dort gab es diese Veranstaltungen.
Die berühmten und oberflächlichen Ansprachen der Vorstandsmitglieder, die Sänger und zum Abschluss die Halay Tänze.
Sie kannte sich aus und fand es eher abstoßend als amüsant.
Senem war eine scharfsinnige Beobachterin.
Ihre Theorie bestätigte sich auch in dieser Gemeinde.
Einer der Jugendlichen versuchte auf einer überheblichen Art und Weise den Versammelten etwas zu vermitteln.
Er warf mit philosophischen Fremdwörtern um sich.
Senem fand ihn witzig.
Um genau zu sein fand sie seine Art witzig; er war weder ernsthaft noch intellektuell aber versuchte mit dieser Fassade zu blenden und einen guten Eindruck zu hinterlassen.
Sie war erleichtert als sie erfuhr, dass er kein Vorstandsmitglied war.
Er war auch zum ersten Mal im Verein.
Senem wollte wissen, welche Aufgaben oder Tätigkeiten die elf Teilnehmer im Verein verrichteten.
Die Antwort überraschte sie.
Sie waren weder Vorstands- noch Vereinsmitglieder.
Der Vorstand des Vereins hatte sich über das Interesse der Jugendlichen sehr gefreut und hat ihnen jegliche Unterstützung angeboten.
Sie stellten ihnen diesen Raum kostenlos zu Verfügung.
Im Fokus des Vereins stand der Glauben.
Daher arbeitete der Vorstand ehrenamtlich und verlangte für ihre Dienste und Ausgaben bei einem Todesfall oder bei einem Leichenschmaus kein Geld.
Die Teilnehmer stellten sich im Laufe der nächsten Stunde vor.
Sie tranken Tee, kosteten die Gaben und sangen ihre Lieder.
Einer von ihnen sang ein Lied von Pir Sultan Abdal.
Sie unterhielten sich über alltäglich Themen, mit denen sie den Abend füllten.
Der Intellektuelle versuchte immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, in dem er philosophierte.
Senem fand die Gestaltung und den Verlauf des Abends langweilig.
Die Teilnehmer waren alle sehr aufrichtig und gastfreundlich, die Themen waren durchaus interessant.
Senem hatte aber andere Erwartungen.
An so einem spirituellen Ort musste noch mehr sein dachte sie sich.
Sie schaute sich im Raum um.
Vielleicht waren es all die Bilder und Symbole des Alevitentums, die sie zu solchen Gedanken verleitete.
Alle Teilnehmer kannten sich untereinander.
Sie war die Einzige, die niemanden kannte.
Sie stand auf und ging in die Küche.
Dort schenkte sie sich eine Tasse Tee ein.
Auf dem Rückweg kam Senem am Gebetsraum vorbei und blieb stehen.
Sie zog ihre Schuhe aus und betrat den Raum.
Sie bewunderte die Architektur.
Auch hier hingen viele religiöse Bilder an den Wänden.
Cem bemerkte ihre lange Abwesenheit und suchte nach ihr.
Er streckte sein Kopf durch die Tür und sagte: „Hier bist du also. Wenn dir langweilig ist können wir sofort gehen. Wir müssen nicht bleiben.“
Es war ihr sehr peinlich. „Nein, mir ist nicht langweilig. Wir können bleiben.“
Senem setze sich wieder an ihren Platz.
Ihr kamen die Gespräche jetzt viel tiefsinniger und die Lieder viel gefühlsvoller vor.
Einer der Teilnehmer sang ein Lied von Mahzuni Şerif.
Die Gruppe sang die Refrains mit.
„Mahzuni Şerif hat dieses Lied auf nur zwei Saiten einer Langhalslaute gespielt und hat es dennoch geschafft, uns damit zu begeistern.
Wie können wir dies erklären?“ fragte einer, der am anderen Eck des Tisches saß.
Erst jetzt bemerkte sie, dass diese und zwei weitere Personen dazu kamen.
Wahrscheinlich als sie im Gebetsraum war.
Cem sprach „Übrigens, das ist meine Freundin Senem.“
Die Person am Tischende begrüßte sie „Herzlich willkommen Senem.“
Die anderen zwei nickten mit dem Kopf. Senem nickte ebenfalls uns sagte leise „Hallo“.
Cem erklärte Senem, dass die drei Neulinge die Gründer des Vereins sind.
Sie war verwundert. Senem schätzte ihr Durchschnittsalter auf 30, wenn überhaupt.
Sie dachte bislang, dass ältere Menschen derart gläubige und geistliche Tätigkeiten verrichteten.
Ab dem Zeitpunkt konzentrierte sie sich auf die Drei.
Die Diskussionen ging weiter.
Der Jugendliche, der die Frage über das Lied stellte, bemerkte Senems Blicke.
Er schaute sie an und sagte „Weißt Du was dein Name bedeutet Senem?“
Sie antwortete selbstsicher „Ja, er bedeutet guter Mensch.“
„Ja, das stimmt, aber nicht ganz.
Es fehlt noch eine Kleinigkeit.
Wir sehen die Erde, ihre vielseitige Schönheit, die durch Gottes Hand erschaffen wurde.
Wir erkennen dadurch seine Kreativität und seine Perfektion.
Genau diese Reflektion bedeutet Senem.“
„Die Details wusste ich nicht.“ sagte Senem.
„Wo steht diese Erklärung? Ich habe in vielen Büchern nachgesehen und bin nicht auf deine Aussage gestoßen.
In manchen stand sogar, dass Senem Götze bzw. Götzenbild bedeutet.“
„Stimmt, diese sinngemäße Erklärung findest du nicht in allen Büchern.
Senem ist ein sehr gängiger alevitischer Mädchenname.
Die Tochter des großen Dichters und Führer Pir Sultan Abdal hieß auch so.
Wenn du dich mit deinem Glauben beschäftigst, dich vertiefst, findest du all diese entscheidenden Erklärungen.
„Seltsam“ sagte Senem.
„Was ist denn seltsam?“ fragte Cem.
„Ich finde die Bedeutung meines Namens im Alevitentum bzw. die Darlegung seltsam“ antwortete Senem.
Somit entfachte eine energische Diskussion über Namen und deren Bedeutungen.
Die Vereinsgründer hörten stillschweigend zu.
„Nachdem hier so vielversprechend diskutiert und analysiert wird, schlage ich vor, wir vertiefen uns und überschreiten gemeinsam die Schwelle des Glaubens.“
Dieser Vorschlag kam von dem Jugendlichen, der diese Diskussion auslöste.
In vielen Gesichtern waren Fragezeichen zu sehen.
Senem fragte „Was meinst du damit, ich verstehe nicht ganz?“
„Soweit ich weiß, haben wir uns bei dieser Diskussionsrunde auf kein Thema festgelegt.
Ich würde mit euch gerne über das Alevitentum und dessen Wirkung auf unser Leben reden.“
Die Runde war damit einverstanden.
Die drei Neulinge führten ab dem Moment die Diskussion.
Einer unter ihnen holte seine Langhalslaute (Bağlama/ saz) und spielte ein duaz, ein religiöses Lied.
Er war einer der 12 Dienste beim Cem, dem Gottesdienst der Aleviten.
Alle Teilnehmer hockten sich aufrecht hin und nahmen eine respektvolle Position ein.
Sie hörten ihm, dem Zakir, wie verzaubert zu.
Senem hatte davor schon viele Lieder über die 12 Imame gehört, aber diesmal überkam sie starke Gefühle und Gedanken, die sie nicht in Worte fassen konnte.
Alle lauschten gebannt, nicht nur Senem.
Aber sie war völlig außer sich.
Nach dem Lied folgten noch zwei deyiş, ebenfalls religiöse Lieder der Aleviten.
Der Zakir vollendete seinen Dienst mit einem Gebet.
Senem war fassungslos, ihre Wangen glühten, ihr war sehr heiß und sie schwitzte.
Sie wollte nicht, dass die Anderen sie so sahen.
Daher schaute sie auf ihren Teller, der vor ihr lag.
Senem hörte den Dreien konzentriert zu und wollte nichts verpassen.
Einer von ihnen fragte „Apropos, warum sind wir Aleviten?“ Senem erhob ihr Kopf und schaute ihn an.
Sie sah in seiner Haltung und seinen Augen die gefestigte Hingebung zu Gott und seinem Glauben.
Keiner konnte diese Frage beantworten.
„Weil unsere Familien Aleviten sind“ sprudelte es aus Senem heraus.
Ihr kam es vor, als wäre dieser Teil der Gesprächsrunde geplant und nur für sie bestimmt gewesen.
Das stimmte aber nicht.
Sie hatte ohne großartige Überlegungen geantwortet.
„Richtig, unsere Familien sind Aleviten und dementsprechend wir auch.
Aber diese Antwort bzw. dieser Grund ist nicht ausreichend.
Es handelt sich nicht um eine Fußballmannschaft, an die wir blind glauben.
Nein, es gibt einen viel tiefsinnigeren und wichtigeren Grund, warum wir Aleviten sind und warum wir diesem Glauben dienen.
Wir glauben aus freien Zügen, ohne Zwang und bloßem Pflichtgefühl.
Wir versuchen die Welt, das Universum, das Dasein und alle Zusammenhänge zu verstehen, sie zu begreifen und bemühen uns in diesem Zusammenhang ein erfülltes Leben zu führen.“
Diese Erklärung setze ihre Gefühle und Gedanken erneut in Bewegung.
Er sprach weiter „Genau, wir versuchen sinngemäß zu leben.
Und dieser Glaube führt uns zu diesem Ziel.
Wir folgen dem Weg vieler Waisen, Heiligen, der Propheten, dem Weg des Propheten Muhammed, des Imamen Ali, der 12 Imame, des Pir Sultan Abdals.
Es ist der Weg von Hacı Bektaş-i Veli und von vielen, deren Namen ich nicht aufgezählt habe.
Wir sind ein unterdrücktes und harmloses Volk/Gemeinschaft und halten uns an unsere Regeln und Grenzen.
Versuchen altertümliche Bräuche und Sitten aus der Welt zu schaffen, genauso die Armut, unter der viele leiden.
Deswegen sind wir Aleviten, genau aus diesen Gründen.“
Die Gesprächsrunde nahm mit vielen weiteren Fragen und Antworten seinen Lauf und ging bis tief in die Nacht.
Senem ging ab diesen Abend fast jedes Wochenende in die Gemeinde.
Versäumte kein Gottesdienst, nahm sogar einen der 12 Dienste wahr und half überall wo es nur ging.
Durch die vielen Diskussionsabende erweiterte sie auch ihr Wissen und Horizont.
Sie fand es schade, all die Jahre, ohne diese Bereicherung verbracht zu haben.
Ihre Freunde fragten sie oft, was ihr denn so an dieser Gemeinde gefiele.
Ihre Antwort verwunderte sie.
„Meine Freunde in der Gemeinde sind genauso wie ihr.
Offen, ehrlich und herzlich. Noch dazu sind sie gläubig.
Sie sind vereint mit dem Weg der Ehlibeyt.
Das ist etwas ganz Anderes.
Das ist die wahre Liebe.
Und die Liebe ist unbeschreiblich, man kann sie nur leben und fühlen“.
Senem erklärte ihren Freunden dieses Empfinden, gab ihnen Bücher zu lesen und versuchte sie diesem Glauben näher zu bringen.
Durch ihr Bestreben hatten ihre Freunde ein anderes Bild über das Alevitentum und hatten viel Respekt davor.
Senem war mit ihren Vorbereitungen fertig.
Sie packte ihre Gaben (lokma) in ihr Auto und startete Richtung Gemeinde.
Der CD-Spieler ging automatisch an und ein deyiş lief im Hintergrund … Schenke dein Herz der Ehlibeyt, damit du Ali treu dienen kannst ….
Remzi Kaptan
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